Home / Themen / Die nächste Revolution / Die zweite digitale Revolution des Automobils

Die zweite digitale Revolution des Automobils

Autonomes Fahren oder alternative Antriebskonzepte – die Automobilbranche steht vor großen Umbrüchen. Doch wie kommt die Intelligenz ins Fahrzeug – und welche Rolle spielen dabei die Ingenieure? Roy Lurie, Vice President of Engineering, MATLAB Products bei MathWorks, kommentiert:

Kontrollierter Straßenversuch der AEBS-Software. Das trapezförmige Objekt zwischen den beiden Fahrzeugen ist ein „weiches Ziel“, das einem Fahrzeug gleichen soll, das zum „Austricksen“ des Radars und der Kamera verwendet wird.

Das erste Auto wurde im Jahr 1885 verkauft. Damit begann eine Revolution durch motorisierte Fortbewegungsmittel und gleichzeitig eine Revolution für die Gesellschaft. Fahrzeuge wurden über die Zeit schneller, aerodynamischer, sicherer, bequemer. Sie setzten sich als Massenverkehrsmittel durch und brachten den Menschen eine zuvor nie dagewesene Mobilität. Doch zunächst waren sämtliche Fortschritte in Fahrzeugen rein auf die Ingenieursebene bezogen.

Erst knapp 100 Jahre später, 1981, wurde der erste Computer in einem Fahrzeug verbaut. Ein Modell von General Motors verfügte über eine ECU (Electronic Control Unit) mit etwa 50.000 Code-Zeilen. Die Ingenieure von damals konnten sich nicht vorstellen, welche Fülle an neuen Möglichkeiten sie dadurch schufen. Dennoch stellt das Modell, das sozusagen der Pionier des Embedded Designs ist, die Initialzündung für alle weiteren Entwicklungen dar: Batteriemanagement, Airbags, elektrische Fensterheber oder automatische Verriegelungen. Heute sind in jedem Auto mehr als 100 Prozessoren mit etwa 100 Millionen Code-Zeilen verbaut.

Vom ersten Computer im Fahrzeug zum Connected Car

Ein weiterer Meilenstein in der Software-Entwicklung des Automobils ist die Möglichkeit der Vernetzung. Das erste Connected Car wurde bereits 1996 auf den Markt gebracht. Zuerst bot es lediglich ein Handy, um ein Support-Center zu kontaktieren. Doch schnell konnte es GPS-Koordinaten senden oder sogar Informationen zum Fahrzeugzustand. Kurz darauf, im Jahr 2000, folgte das erste Fahrerassistenzsystem: ein Warnsystem in LKWs von Mercedes im Falle des versehentlichen Fahrspurwechsel.

Heute besitzen Automobile fein justierte Predictive-Maintenance-Funktionen, die Warnungen senden, bevor ein bestimmtes Bauteil nicht mehr funktioniert. Es gibt Funktionen, die per Sprache gesteuert werden können, um beide Hände am Lenkrad halten zu können. Fahrzeug-zu-Fahrzeug-Applikationen (V2V) geben wichtige Informationen von Fahrzeug zu Fahrzeug weiter, indem sie etwa andere Fahrzeuge bei Notbremsungen oder Spurwechseln im toten Winkel elektronisch vorwarnen. Und in den nächsten Jahren werden Hersteller die ersten autonom fahrenden Autos auf den Markt bringen.

Die zweite Digitale Revolution

Was wir anhand dieser Beispiele sehen, ist die zweite digitale Revolution in der Automobil-Industrie, bei der es vor allem darum geht, künstliche Intelligenz in das Fahrzeug zu bringen. Getragen wird sie von Model-Based Design. Ein Beispiel ist das von Scania entwickelte Notbremssystem für deren Lkws, das Heckkollisionen vermeiden sollen. In diesem Fall werden Radar- sowie Kamerasensoren im Zusammenspiel verwendet, um die Umwelt zu erkennen. Radarsensoren können insbesondere die Reichweite eines Objekts, seine relative Geschwindigkeit und Festigkeit feststellen – erkennen also, ob es sich um eine Nebelbank oder ein solides Objekt handelt. Kameras ergänzen dieses Bild um weitere wichtige Informationen. Sie können die Größe eines Objekts sowie seine laterale Position feststellen und so bestimmen, ob das Fahrzeug sich auf der eigenen Fahrspur befindet oder am Seitenstreifen geparkt ist. Sobald eine Kollision bevorsteht, wird der Fahrer durch ein akustisches Signal gewarnt. Reagiert dieser nicht, wird automatisch eine Warnbremsung ausgeführt.

Wie das Fahrzeug intelligent wird

In einem System wie dem von Scania werden pro Sekunde eine Vielzahl neuer Daten ausgewertet, die in Echtzeit analysiert werden müssen: Die Informationen aus Radarsensoren und Kameras müssen ausgewertet und zu einem einheitlichen Bild verschmolzen werden. Dann steht eine Entscheidung an: Besteht Gefahr? Muss eine Notbremsung vorbereitet werden? Hieraus ergeben sich auch Fragen für die Entwicklung: Kann man weitere Aspekte erkennen, die man beim System-Design bedenken muss? Ist der Code, der diese Berechnungen macht, effizient? Bei Scania lag die CPU-Auslastung der elektronischen Steuereinheit bereits bei 60 Prozent als das Unternehmen mit dem Sensorfunktionsprojekt begann.

Damit der Mechanismus der Notbremsung zuverlässig funktioniert, wird er im Zuge der Entwicklung eingehend getestet. Scania verifizierte sein Design anhand von Simulationen auf der Grundlage von mehr als 1,5 Millionen Kilometern an Sensordaten und nutzte dafür die modellbasierte Entwicklung.

Machine Learning für Ingenieure

Die Entwicklung immer komplexerer Applikationen und Fahrzeugfunktionen stellt Ingenieure vor eine große Herausforderung: Wie können die riesigen Datenmengen, die von den Sensoren geliefert werden, effizient ausgewertet werden? Wie findet man die Daten, die wirklich einen Unterschied machen? Wie kann man sie nutzen, um Kunden einen besseren Service zu bieten?

Eine Lösung kann nur darin bestehen, die Expertise von Automobil-Ingenieuren mit dem Know-How um Machine-Learning-Techniken und Datenanalyse zu vereinen. MathWorks unterstützt Automobil-Ingenieure, indem es Tools zur Verfügung stellt, mit denen die Ingenieure selbst Big Data analysieren und Machine-Learning-Anwendungen erstellen können.

In den letzten Jahren hat die Automobilindustrie eine digitale Revolution erlebt, mit einem Zuwachs von elektronischen Steuerungen in praktisch jedem System. Jetzt beginnt mit automatisiertem Fahren und Predictive Maintenance die nächste Phase der Evolution, in der datengesteuerte Algorithmen zur Implementierung künstlicher Intelligenz eine Schlüsselrolle spielen. Die Gewinner werden durch ihre Fähigkeit bestimmt, Automotive Engineering mit Big Engineering Data zu verschmelzen, wodurch Daten-Analytik und Deep Learning Teil ihrer Forschungs-, Design- und Entwicklungsprozesse werden.
Bildunterschrift: Kontrollierter Straßenversuch der AEBS-Software. Das trapezförmige Objekt zwischen den beiden Fahrzeugen ist ein „weiches Ziel“, das einem Fahrzeug gleichen soll, das zum „Austricksen“ des Radars und der Kamera verwendet wird.
 Roy Lurie hält einen Vortrag zum selben Thema auf der MathWorks Automotive Conference in Stuttgart (17. April 2018) hören.

 

Share

About Christoph Witte

Christoph Witte arbeitet als IT-Publizist und Kommunikationsberater in München. Seit langem ist er fester Bestandteil der IT-, TK und Online-Community in Deutschland.

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *

*