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Digitales Defizit: Energieversorger mit Nachholbedarf

Die etablierten deutschen Energieversorgungsunternehmen (EVU) nutzen die Potenziale der Digitalisierung bislang nur begrenzt – insbesondere in den Segmenten Vertrieb und Erzeugung. Insgesamt muss die Energiewirtschaft nachholen, um effizienter zu werden, Kunden besser zu bedienen und die Markteinstiegshürden für neue oder bekannte Wettbewerber zu erhöhen. Andernfalls droht ihr, Marktanteile auf allen Ebenen der Wertschöpfungskette an neue Marktteilnehmer zu verlieren. Das zeigt der „Digitalisierungsindex EVU“ der Managementberatung Oliver Wyman.

Die Berater bewerten den Grad der Digitalisierung der deutschen EVU entlang der Wertschöpfungsstufen Erzeugung, Handel, Netze und Vertrieb. Der daraus abgeleitete Digitalisierungsindex zeigt: Auf einer Skala von null bis 100 stehen die deutschen Energieversorger bei nur 31 Punkten. (Null bezeichnet nicht vorhandene oder sehr begrenzte Digitalisierung, 100 steht für eine branchenübergreifende Best-in-Class-Lösung). Thomas Fritz, Energie-Experte und Partner bei Oliver Wyman: „Die Ergebnisse unserer Analyse machen deutlich, dass die etablierten Versorger die durch die Digitalisierung entstehenden Chancen allenfalls ansatzweise ausschöpfen.“

Erzeugung und Vertrieb am schwächsten

Besonders am Anfang und am Ende der Wertschöpfungskette seien die deutschen EVU schwach aufgestellt. Der Bereich Erzeugung komme auf lediglich 30 Digitalisierungspunkte, der Bereich Vertrieb sogar nur auf 23 Punkte. Jörg Stäglich, Partner bei Oliver Wyman und Leiter der europäischen Energieversorger-Practice der Managementberatung: „Wenn diese wichtigen Bereiche der Wertschöpfungskette nicht richtig aufgegleist sind, kann auch das Potenzial aus Digitalisierung nur bedingt gehoben werden.“

Dabei bestehen gerade im Bereich der dezentralen Energie-Erzeugung vielfältige Chancen, mithilfe der Digitalisierung die große Menge der in den letzten Jahren errichteten Anlagen effizienter zu managen. Das haben Innovatoren wie das Start-up Kaiserwetter schon vorgemacht: Durch das digitale Management der Anlagen und des gesamten Portfolios konnten deren technische Leistung und damit der finanzielle Ertrag nachhaltig verbessert werden. Ein zweites Beispiel: General Electric hat ein real existierendes Kraftwerk digital nachgebaut und kann so die Abläufe simulieren. „Digital Twin“ – so heißt das virtuelle Kraftwerk im Rechner – stützt sich bei der Simulation auf Input aus physischen Größen und modelliert den Status einzelner Kraftwerkskomponenten.

  • Im Handel (39 Digitalisierungspunkte) werden sich die EVU mit revolutionären digitalen Technologien wie den Blockchains auseinandersetzen müssen. Hier bestehen bei den Unternehmen noch erhebliche strategische Defizite. Die Blockchain-Technologie nutzt kryptografische Listen für Transaktionen und macht so eine zentrale Kontrollfunktion überflüssig. Damit sinken die Eintrittsbarrieren, junge Firmen drängen mit innovativen Lösungen auf den Markt und sorgen für mehr Wettbewerb. So wurde bereits im Frühjahr 2016 in New York der erste Trade für Solarstrom auf der Grundlage von Blockchain-Algorithmen gehandelt.
  • Im Bereich Netze (41 Digitalisierungspunkte) wenden EVU digitale Analyse-Tools noch nicht konsequent genug an. Dazu gehören etwa Reparaturen kritischer Teile der Infrastruktur auf Basis einer kontinuierlichen digitalen Überwachung und Predictive Maintenance. Oder auch „selbstheilende Netze“: Bei ihnen werden automatisch Fehler geortet und isoliert, anschließend die Stromversorgung ebenfalls automatisch wiederhergestellt. In Rotterdam etwa werden solche Netzstrukturen bereits eingesetzt.
  • Im Vertrieb – vor allem beim Privatkundengeschäft – könnten die EVU durch digitale Kanäle Kundenbedürfnisse signifikant besser und individueller bedienen, als es derzeit geschieht. Soziale Medien, Angebote in Echtzeit und Multi-Channel-Kontaktpunkte – beispielsweise über Apps, Kundenportale und per SMS – sind erste Ansätze in diesem Kontext. In diesem Bereich, so die Oliver Wyman-Analyse weiter, können die Versorger von modernen digitalen Vertriebsplattformen von internationalen Telekommunikationsunternehmen wie Jawwy in Saudi-Arabien lernen. Ihnen ist es gelungen, digitale Kundenkontaktkanäle zu integrieren und erfolgreiche Erlebniswelten aufzubauen.

Die Experten von Oliver Wyman sehen das größte Potenzial in der Digitalisierung der Bereiche Vertrieb, Netz und dezentrale Erzeugung. „Im Netz haben viele Versorger bereits erste Schritte unternommen“, sagt Stäglich. „Vor allem im Vertrieb und in der dezentralen Erzeugung müssen sie jedoch aufholen.“ Dazu zähle auch, dass die Versorger ihre Angebote attraktiver sowie kundenindividueller zuschneiden und über eine Vielzahl digitaler Kanäle an die Kunden herantragen. „Dieses Angebot geht weit über Strom und andere Commodities hinaus“, sagt Stäglich.

Nach vorne schauen und Chancen ergreifen

Innovative Start-ups wie SwitchUp.de und Grid Singularity sind besonders in den Bereichen Vertrieb und Handel aktiv und drohen, den etablierten Energieversorgern das Geschäft streitig zu machen. „Nicht nur deutsche Versorger haben hier Nachholbedarf“, sagt Energie-Experte Thomas Fritz. „Der Trend ist ganz klar global zu beobachten. Alle Energieversorger müssen sich den digitalen Veränderungen stellen, damit sie weiterhin im Markt erfolgreich agieren können.“

Die Herausforderungen reichen laut der Analyse von einer Verbesserung der Datenqualität über Automatisierungen, optimierten Planungen und Advanced Analytics bis hin zu neuen Technologien um Blockchains und Big Data. „Lösen die EVU diese Zukunftsaufgaben“, so Fritz, „können sie anschließend Produktinnovationen umsetzen, mit denen sie neue Kundensegmente erschließen und bestehende erweitern. Gleichzeitig können signifikante Effizienzen in den Prozessen gehoben werden. So liegt in der Digitalisierung der Energiebranche vor allem eine große Chance.“

Über den „Digitalisierungsindex EVU“: Für den Index bewerteten die Oliver Wyman-Experten den Grad der Digitalisierung von acht deutschen Energieversorgern im Zeitraum Dezember 2016. Dabei wurde die Digitalisierung der unterschiedlichen Ebenen der Wertschöpfungskette (Erzeugung, Handel, Netze und Vertrieb) anhand eines spezifischen Fragekatalogs auf einer Punkteskala von null bis 100 bewertet. Im B2C-Vertrieb zählen dazu etwa Fragen zur Nutzung sozialer Medien in der Kundengewinnung, der Intensität mobiler Lösungen im Interaktionsprozess mit dem Kunden, der Nutzung virtueller Agenten im Customer-Care-Prozess und der digitalen Platzierung personaspezifischer Angebote/Customer Journeys.

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