Die Chemieindustrie tritt in ein neues Zeitalter: Waren in den vergangenen Jahren vor allem Übernahmen und Fusionen im Bereich der Life Sciences ein beherrschendes Thema, geht die Branche nun mit großen Schritten in Richtung Digitalisierung.
Die Zahl der digitalen Innovationen, die Einfluss auf die Chemieindustrie haben, wächst laufend: Sensoren beispielsweise überwachen in Echtzeit Produktqualitäten, die Präzisionslandwirtschaft verändert den Einsatz von Agrarchemikalien, 3D-Druck und andere digitale Werkzeuge schaffen neue Produktionsverfahren.
Ähnlich wie die verarbeitende Industrie mit Industrie 4.0 erlebt nun auch die Chemiebranche einen durchgreifenden Wandel. Welche Chancen und Herausforderungen das für Unternehmen bringt, beschreiben die Experten von Roland Berger in ihrer neuen Publikation „Master the maze – Formulating a winning digital strategy in chemicals“.
Die Chemiebranche ist eine wichtige Säule der globalen Wirtschaft. Ihr weltweites Geschäftsvolumen beträgt heute rund 2,3 Billionen Euro und dürfte bis 2035 weiter auf 5,6 Billionen Euro wachsen. Doch damit diese wichtige Industrie von ihrem Wachstum profitieren kann, sollte sie sich zukunftsfest aufstellen. „Bisher entscheiden die Optimierung von Produktionsanlagen oder die Preisgestaltung über den Erfolg von Chemieunternehmen“, sagt Carolin Griese-Michels, Partner von Roland Berger. „Parallelen zur digitalen Welt der Internetunternehmen sind dabei auf den ersten Blick schwer auszumachen.“
Doch die dramatischen Auswirkungen der Digitalisierung in anderen Branchen haben auch die meisten Chemie-CEOs für die Thematik sensibilisiert. „Die Entscheider haben erkannt, dass digitale Technologien das Potenzial haben, die Chemie-Wertschöpfungskette dauerhaft zu verändern – von Forschung und Entwicklung über die Lieferkette und Produktion bis hin zu Marketing und Vertrieb“, sagt Philipp Leutiger, Partner von Roland Berger.
Herausforderung: Hype und Realität trennen
In einer Umfrage von Roland Berger gaben fast 60 Prozent der befragten Chemieunternehmen an, Bedarf für eine digitale Strategie zu haben. Gleichzeitig verfügt die Hälfte der Befragten über keine oder nur wenig Kompetenzen, um die Chancen der digitalen Transformation tatsächlich nutzen zu können. „Das ist aber entscheidend für Unternehmen, die wettbewerbsfähig bleiben wollen“, erklärt Griese-Michels: „Es geht nicht nur darum, innovative Technologien anzuwenden. Vielmehr ist die zentrale Frage, wie Firmen die Realität vom Hype trennen können und wie sie die richtige Herangehensweise finden. Kurz: Was ist der Schlüssel zum Erfolg im digitalen Nebel.“
Dabei haben Chemiekonzerne zwei Optionen: einerseits Evolution, also Anpassung der bestehenden Technologien und Strukturen, und andererseits Revolution, also komplette Veränderung der konventionellen Branchenstrukturen mit durchschlagenden Innovationen oder Prozessen. Laut der Umfrage haben rund zehn Prozent der Chemieunternehmen sich noch nicht entschieden, welche Möglichkeit sie wählen wollen; sie befinden sich noch in der Analysephase. Rund 70 Prozent gehen den evolutionären Weg mit einer schrittweisen digitalen Transformation. Die revolutionäre Variante ist dagegen für die meisten Firmen nicht passend und wird nur von einzelnen Unternehmen im Vertrieb genutzt.
Kombination aus Evolution und Revolution
Ein dritter und am meisten Erfolg versprechender Weg sei die Kombination aus Evolution und Revolution. Rund 20 Prozent der befragten Firmen lassen sich bisher hier einordnen, meist Spezialchemie-Unternehmen, die sich auf einzelne Abnehmerbranchen fokussieren. „Sie haben eine Vision, das heißt, sie erkennen, wo auf ihrer Wertschöpfungskette Chancen brachliegen und nutzen gezielt digitale Technologien, um einerseits evolutionär Verbesserungen voranzutreiben und andererseits in ausgewählten Bereichen neue revolutionäre Wettbewerbsvorteile zu erreichen“, sagt Griese-Michels. „So bleiben sie in ihrer Branche führend und treiben gleichzeitig die Veränderung des Marktes in ihrem Sinne voran.“
Das Problem: In der Chemiebranche mit ihrer großen Bandbreite an Produkten und Anwendungen gibt es keine allgemein gültige Vision und Handlungsanweisung für diesen Weg. Vielmehr muss jedes Unternehmen sein eigenes Bild von der Zukunft entwickeln und dann die richtigen Maßnahmen setzen, um es zu erreichen. Dafür ist eine systematische Herangehensweise sehr hilfreich.
In drei Schritten zum digitalen Wandel
Damit Chemieunternehmen die Chancen der Digitalisierung für sich optimal nutzen können, empfehlen die Roland Berger-Experten drei wesentliche Schritte:
1. Kernkompetenzen definieren und Zukunftsvision entwickeln: Unternehmen sollten vorerst ihre Kernkompetenzen definieren und sie mit den Bedürfnissen des Markts abgleichen. Dabei sollten sie auch ihre digitalen Fähigkeiten bei Themen wie Forschung und Entwicklung, Produktion, Lieferkette, Marketing und Vertrieb unter die Lupe nehmen. Außerdem sollten sie Branchentrends, Kundenbedürfnisse, Wettbewerber und Technologien beobachten und mithilfe von Experten aus verschiedenen Bereichen – Zukunftsforschern, Innovatoren, Unternehmern, eigenen Managern, Stakeholdern und Kunden – Zukunftsszenarien entwerfen.
2. Digitale Ansatzpunkte mit Geschäftsrelevanz: In der zweiten Stufe geht es darum, mögliche Ansatzpunkte für digitale Maßnahmen entlang der Wertschöpfungskette der chemischen Industrie zu identifizieren. So können Unternehmen eine optimale digitale Agenda festlegen.
3. Digitale Hubs für die Umsetzung: Schließlich sollten Chemieunternehmen ihre digitale Agenda intern kommunizieren und die nötigen Kompetenzen für die Umsetzung festlegen. Zentrale Aufgabe ist dabei die Veränderung der Unternehmenskultur.
„Die digitale Transformation ist für die Unternehmen der Chemieindustrie wie für alle anderen Branchen ein Trend, dem sie sich nicht verschließen dürfen, wenn sie auch in Zukunft im Wettbewerb bestehen wollen“, fasst Roland Berger-Experte Philipp Leutiger zusammen. „Je früher sie sich damit befassen und eine Strategie für den digitalen Wandel ihres Geschäfts entwickeln, desto eher können sie die vielversprechenden Chancen nutzen, die sich daraus ergeben.“