Im Zeitalter der Digitalisierung lösen sich ganze Branchen mitsamt den jeweiligen Wertschöpfungsketten auf – das ist inzwischen eine der Binsenweisheiten von Unternehmenslenkern. Im Rahmen einer internationalen Studie hat die Innovations- und Strategieberatung Arthur D. Little den digitalen Reifegrad von mehr als 100 europäischen Unternehmen aus sieben Branchen eingehend betrachtet und systematisch bewertet. Das Ergebnis sei ernüchternd, denn nur ca. 20 Prozent der Unternehmen verstünden es, die Digitalisierung aktiv zu gestalten, während der Rest lediglich versuche, auf digitale Entwicklungen zu reagieren – ohne schlüssiges Gesamtkonzept.
Für die Bewertung hat Arthur D. Little den „Digital Transformation Index“ (DTI) entwickelt, der den Digitalisierungsgrad umfassend und systematisch analysiert. Die Berater untersuchten die Felder Strategie, Umsetzungssteuerung, Produktportfolio, Kundenschnittstellen, interne Prozesse, IT und Kultur. Der Reifegrad wurde dabei auf einer Skala von 1 bis 10 bewertet.
Der Durchschnittswert über alle Unternehmen hinweg lag bei nur bei 3,92. Die Arthur D. Little Experten attestieren nur 22 Prozent der Studienteilnehmer, zu den Vorreitern der digitalen Transformation zu zählen. Davon erhielten lediglich zwei Unternehmen die Bestnote und wurden als „digital centric“ eingestuft.
Demgegenüber stehen laut Arthur D. Little jedoch 60 Prozent der Unternehmen, die versuchen, sich an bestehende Trends anzupassen, ohne dabei eigene Visionen zu verfolgen. 18 Prozent der Unternehmen waren sich der Herausforderungen der Digitalisierung zwar bewusst, eine eigene Strategie fehlte jedoch gänzlich. Beim Blick auf die Detailergebnisse zeige sich zudem, dass keine spezifische Branche als Vorreiter anzusehen ist.
Die Experten sehen großen Handlungsbedarf, um die Potentiale der Digitalisierung tatsächlich voll nutzen zu können. Dr. Michael Opitz, Initiator der Studie und verantwortlicher Leiter der TIME Practice von Arthur D. Little in Central Europe, stellt fest: „Viele Unternehmen haben leider noch nicht die Chancen und Risiken der Digitalisierung erkannt, sondern fokussieren sich nur darauf, ihr bestehendes Geschäftsmodell über digitale Kanäle zugänglich zu machen“.
Bernd Schreiber, Partner im Bereich Operations Management und Mitautor der Studie, führt aus: „Die Untersuchung zeigt uns, dass die Unternehmen im Allgemeinen digitale Herausforderungen nur halbherzig angehen. So haben nur 70 Prozent der untersuchten Unternehmen ein klare Vision und eine Roadmap, um Technologien wie Augmented Reality, Cyber Physical Systems oder cloudbasierte Machine-to-Machine-Lösungen für die eigenen Prozesse zu nutzen. Der DTI in dieser Sektion ist mit lediglich 2,88 besonders schwach.“
Deutsche Unternehmen im Mittelfeld
Die deutschen Unternehmen landeten in der Untersuchung eher im Mittelfeld – Deutschland zähle nicht zu den Vorreitern der Digitalisierung. Die Mehrheit der untersuchten Unternehmen hat Schwierigkeiten, ihr Produktportfolio an die Möglichkeiten der digitalen Welt anzupassen und dabei den Wechsel vom reinen Produkt- zum datengetriebenen Servicegeschäft zu meistern.
Schreiber ist besorgt, wie behäbig viele Anlagen- und Maschinenbauer das Thema Data-driven Service Business angehen: „Industrie 4.0 ist in aller Munde. Unsere Erhebung zeigt, dass Anspruch und Wirklichkeit aber noch weit auseinander klaffen. Bei der derzeitigen Dynamik innerhalb der Branchen ist es für Unternehmen gefährlich, den Anschluss zu verpassen“.
Opitz fasst zusammen: „Besonders hohes Potenzial, international eine Führungsrolle als Motor der Digitalisierung einzunehmen, hat Deutschland in den Branchen Maschinenbau, Automobilbau und Logistik. Voraussetzung hierfür ist aber, die digitale Agenda noch stärker und vor allem schneller nach vorne zu treiben. Einzelne Unternehmen in diesen Branchen beschäftigen sich schon seit Jahren mit diesen Fragestellungen und bieten erste Lösungen an, die den internationalen Vergleich nicht scheuen müssen. Auch die die Finanz- und Versicherungsbranche wird in den nächsten Jahren noch sehr viel Druck spüren – von Fintechs einerseits und Konkurrenten aus derselben Domäne andererseits.“