Der Express-Lieferservice Amazon Prime Now ist der Vorreiter für Amazon Fresh in Deutschland. Binnen einer Stunde bringt der Service Frischwaren in allen Temperaturzonen in Münchener Haushalte. Einer Analyse der Strategieberatung Oliver Wyman zufolge könnten Onlineangebote im deutschen Lebensmittel-Einzelhandel mittelfristig zu Umsatzverschiebungen von sechs bis acht Milliarden Euro führen. Amazon könnte dabei einen hohen Anteil an den Umsätzen im Online-Lebensmitteleinzelhandel haben. Etwa 15 Prozent der Filialen der deutschen Vollsortimenter könnten Verluste machen und bis zu 40.000 Arbeitsplätze könnten sich in den Onlinebereich verschieben.
Milch, Butter, Äpfel und Wurst: Wer in Berlin und München die Prime Now App von Amazon nutzt, findet dort neben dem bekannten Sortiment erstmals auch alle gängigen Lebensmittel. Unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit erhält damit an der Seite des Express-Lieferservice auch Amazon Fresh Einzug in den deutschen Markt.
Amazon hat seine Hausaufgaben gemacht
Nach Analysen der Strategieberatung Oliver Wyman hält das Angebot einem Wettbewerbsvergleich durchaus Stand. Es beinhalte zwar zunächst nur ein Viertel der Artikel eines Vollsortimenters, darunter befinden sich aber bereits die wichtigsten Eckartikel und Marken.
Auch bei den Preisen ist Amazon konkurrenzfähig: Warenkörbe von 25 Euro mit hohem Frischwaren-Anteil kosten nicht einmal einen Euro mehr als bei Filialisten – und die Lieferung erfolgt frei Haus. Jedoch gebe es auch Einschränkungen: hinsichtlich Eigenmarken beispielsweise haben die Vollsortimenter zurzeit noch einen deutlichen Vorsprung.
„Alles in allem jedoch hat Amazon wie gewohnt seine Hausaufgaben gemacht und einen sehr effizienten Betrieb aufgebaut“, sagt Michael Lierow, Partner und Handelsexperte bei Oliver Wyman. Die Kosten pro Zustellung durch Lastenfahrräder oder Kleinfahrzeuge lokaler Spediteure lägen zwar schätzungsweise zum Start noch bei rund vier Euro je Lieferung, könnten aber künftig auf etwas weniger als einen Euro sinken. Denn zum einen werden die Frische-Lieferungen zunehmen. Zum anderen werden die Lieferfahrzeuge neben Frischwaren in Extra-Kühlbags auch das gewohnte Amazon-Sortiment in die Haushalte liefern.
Großraum München: Zig Millionen Euro Umsatz wandern in den Onlinekanal
Der harte Wettbewerb im Lebensmittelhandel erreiche damit eine neue Dimension. Einer Modellrechnung von Oliver Wyman zufolge können allein im Großraum München schon heute 40 bis 50 Millionen Euro Umsatz pro Jahr in den Onlinekanal wandern. Wenn Amazon einen realistischen Anteil von fünf Prozent des Marktes mit seinem Versprechen erobere, Lebensmittel binnen einer Stunde oder einem frei gewählten Zweistundenfenster zu liefern, steige diese Größe auf bis zu 400 bis 500 Millionen Euro allein im Großraum München.
„Wie schnell welcher Anteil der Umsätze letztendlich bei Amazon landet, hängt sicherlich von der Ausbaugeschwindigkeit ab, aber auch davon, wie schnell und engagiert die Lebensmitteleinzelhändler ihre eigenen Online-und Multikanallösungen ausbauen“, sagt Lierow.
Hochgerechnet auf den deutschen Markt seien es sechs bis acht Milliarden Euro pro Jahr, die in den nächsten Jahren aus dem stationären Handel abfließen könnten. Besonders betroffen seien die klassischen Vollsortimenter. Fehlen den durchschnittlichen Warenkörben nur ein bis drei Euro pro Kauf, operieren viele Filialen nicht mehr positiv. Dies könnte etwa 1.200 bis 1.700 Filialen im Wesentlichen der Vollsortimenter betreffen – mit Folgen für die Kaufleute sowie ihre Angestellten. Rund 40.000 Arbeitsplätze könnten in den Onlinebereich umgelagert werden.
Das Kundenwissen nutzen: Online- und Multikanal-Angebote ausbauen
Dieses Szenario hält Oliver-Wyman-Projektmanager Cornelius Herzog für realistisch, besonders in Großstädten und Ballungszentren. Er sagt: „Die etablierten Handelsunternehmen müssen sich jetzt für den nächsten Schritt rüsten und schnelle sowie konsequente Entscheidungen in den Bereichen Online und Multikanal treffen.“
Zwei Themen stehen im Mittelpunkt:
- Schneller und radikaler Ausbau des eigenen Online-Angebots. Die Zeiten der Pilotversuche und regionaler oder sogar lokaler Lösungen sind angesichts der Effizienz und Stärke von Amazon vorbei.
- Verknüpfung sämtlicher Kanäle zu einem überzeugenden Multikanal-Angebot. Hier liege das Alleinstellungsmerkmal der Zukunft für die Filialisten. Sie sollten ihre Kunden durch die täglichen Filialbesuche so gut kennen, dass das Onlineangebot den Filialbesuch ideal ergänzt – und damit bequemer und besser ist als der Einkauf bei einem reinen Onlinehändler. Marke und Qualitätsversprechen müssen mittransportiert werden.
Herzog sagt: „Die etablierten Händler wissen schon heute einiges über das Einkaufsverhalten und die Bedürfnisse ihrer Kunden. Sie könnten noch viel mehr daraus machen.“ Kenne man den Kunden durch viele Offlinekäufe, sollten personalisierte Warenkörbe und spezielle Angebote online erfolgen.
Mit dem Dash-Button, der Routine-Einkäufe vereinfacht, setze Amazon genau an dieser Stelle an. Lierow sieht auch daher die etablierten Lebensmittelhändler am Zug: „Das breite Filialnetz und die hohe Kundenfrequenz sind enorme Vorteile, von denen der Einzelhandel heute noch profitiert: Lokale Kaufleute sind eine große Stärke im Einzelhandel, die genutzt werden muss. Doch es braucht auch ein überzeugendes digitales Angebot, um auf Dauer gegen große Online-Anbieter und allen voran Amazon zu bestehen.“