Obwohl sich immer mehr Verbraucher digitale Angebote wünschen, hinken viele traditionelle Versicherer der digitalen Transformation hinterher. Sie riskieren, im Wettbewerb von innovativen Newcomern verdrängt zu werden. Doch die größte Gefahr geht nicht von InsurTechs aus, sondern von neuen Angeboten, sogenannten „Financial Homes“, an denen bereits ein Drittel der Konsumenten in Europa Interesse haben: Digitale Plattformen, die als zentraler Anlaufpunkt für Endverbraucher alle Finanz- und Versicherungsangebote bündeln. Denn als bevorzugten Anbieter eines Financial Homes sehen Endverbraucher eher Banken oder FinanzApps als Versicherungen.
„Der Trend zum Financial Home hat das Potenzial, die etablierten Beziehungen zwischen Anbietern und Kunden in der Finanz- und Versicherungsbranche aufzubrechen und die Marktanteile neu zu verteilen“, kommentiert Dietmar Kottmann, Partner und Verantwortlicher für das Versicherungsgeschäft in DACH bei Oliver Wyman, die Ergebnisse der „Financial Needs“-Studie der Strategieberatung.
Ein Drittel der befragten Konsumenten in Deutschland, Spanien, Frankreich, Italien und im Vereinigten Königreich signalisiert darin Interesse an digitalen Plattformlösungen, die es möglich machen, an einem zentralen Platz alle Finanzen und Versicherungen zu managen. Enormes Potenzial ergibt sich für das Financial Home durch den Zugang zu den Bankkonten der Kunden und damit verbundenen Analyse-Möglichkeiten. Auf diese Weise können die Plattformen den Kunden konkrete Handlungsempfehlungen geben, wie sie ihre Finanzen und Versicherungen optimieren können.
Finanzdienstleistungen auf einen Blick
Möglich mache das die EU-Zahlungsdienstrichtlinie PSD II. Sie schreibt Banken vor, von der Bafin zertifizierten externen Dienstleistern, zu denen etwa FinTechs oder Versicherungen gehören können, Zugriff auf Kontodaten der Kunden zu gewähren, sofern diese ihr Einverständnis geben. So erhalten Financial Homes einen detaillierten Einblick in die Ein- und Ausgaben, das verfügbare Einkommen, die Lebenshaltungskosten, aber auch über bestehende Versicherungen und sonstige Verträge.
Kombiniert mit intelligenten Tools können die Plattformen die Transaktionsdaten analysieren und dem Kunden Optimierungspotenziale aufzeigen:
- wo weiterer Versicherungsbedarf besteht,
- ob es günstigere Alternativen zu bestehenden Verträgen gibt oder
- ob nicht notwendige Versicherungen gekündigt werden sollten.
Dabei sei die Integration weiterer Ökosysteme möglich, die dem Kunden zusätzliche Kostenoptimierungen ermöglicht, sei es im Bereich Telefon, Strom oder Transportdienstleitungen. Auch beim Eintritt zentraler Lebensereignisse wie dem Kauf einer Immobilie oder einem Job-Verlust könnten sinnvolle Handlungsempfehlungen gegeben werden. So könne das Financial Home für den Verbraucher als täglicher Wegbegleiter und Berater zum „One-Stop-Shop“ in allen Finanz-, Versicherungs- und weiteren Vertragsfragen werden.
Kunden haben die Wahl
Unterschiedliche Unternehmen stehen bereits in den Startlöchern, um einen umfassenden digitalen Vertriebskanal im Bereich Finanzierung und Versicherungen anzubieten. Im Wettbewerb stehen nicht nur etablierte Anbieter wie Banken und Versicherungen, sondern auch digitale Player wie Big Techs – etwa Amazon, Apple und Google –, FinTechs und Vergleichsportale.
Als bevorzugter Anbieter für ein Financial Home stehen für 62 Prozent der Befragten die Banken an erster Stelle, gefolgt von Finanzberatungs-Apps (17 %). Dagegen belegen Versicherungen mit 14 Prozent lediglich den dritten Platz, allerdings noch vor den Big Techs (6 %).
„Hier stellt sich die Frage, ob Versicherungen die Chance haben, sich als zentraler Anlaufpunkt in allen Finanzfragen zu etablieren, oder ob sie in die Rolle des reinen Produktlieferanten in Financial Homes anderer Anbieter gedrängt werden“, sagt Stefan Wojahn, Partner bei Oliver Wyman und Experte für Bancassurance und Digitalisierung im Vertrieb.
Versicherungen können auf Vertrauen der Kunden aufbauen
Doch Versicherungen verfügen auch über klare Stärken. So geben diejenigen Befragten, die einen Versicherer als bevorzugten Anbieter für ein Financial Home ausgewählt haben, folgende Hauptgründe dafür an:
- Sicherheit (39 %),
- „natural fit to provide“ (26 %),
- die Technologie (25 %) sowie das
- Vertrauen in die Marke und den guten Ruf (19 %).
„Daraus ergibt sich durchaus das Potenzial für größere Versicherer, einen Premium-Marktplatz mit weiteren Partnern aufzubauen, dem die Kunden vertrauen können. Für andere wird es entscheidend sein, sich auf die Bedarfe der zukünftigen Financial Home Platzhirsche – darunter sicher viele Banken – einzustellen: innovative Produkte, z. B. unter Nutzung von Bankdaten zur einfachen Tarifierung, und das Know- how, Financial Home-Kunden optimal auf Versicherungsprodukte anzusprechen sind dabei zwei Beispiele“, sagt Wojahn.
Wie die Studie über das Thema Financial Homes hinaus zeigt, sind traditionelle Versicherungen gefordert, digitale Angebote mit viel Flexibilität und attraktiven Preisen anzubieten, um nicht vom Wettbewerb verdrängt zu werden. Gleichzeitig müssen sie sich den Herausforderungen der neu entstehenden Financial Homes stellen.
„Da Banken von den Verbrauchern als bevorzugter Anbieter gesehen werden, wird es nur wenigen Versicherern gelingen, selbst umfassende digitale Plattformen zu entwickeln. Deswegen sollten sie sich als attraktiver Partner für Financial Homes anderer Anbieter aufstellen“, empfiehlt Kottmann. „Dabei können sie ihre Stärken wie etablierte Marken und hohes Verbrauchervertrauen als wichtige Assets mit einbringen.“