Zwei Drittel der Unternehmensleiter weltweit sind optimistisch, dass sich der europäische Markt relativ schnell vom wirtschaftlichen Abschwung durch die COVID-19-Pandemie erholen wird. Europäische Unternehmen planen dabei zwar, die digitale Transformation zu beschleunigen – ob sie zu den US-amerikanischen und chinesischen Unternehmen aufschließen können, bleibt aber offen.
Das geht aus dem neuen Report „Bold Moves in Tough Times“ des Beratungsunternehmens Accenture hervor, der auf einer Umfrage unter fast 500 Führungskräften der C-Level in 15 Branchen basiert. Laut des Reports erwarten etwa drei von zehn Befragten (29 %) eine recht schnelle (V-förmige) Erholung in Europa, während 37 Prozent mit einer langsameren, aber stetigen Erholung (U-förmig) in den nächsten zwölf Monaten rechnen.
Am optimistischsten blickt der Pharmazie/Biotechnologie/Life Sciences-Sektor in die Zukunft. 34 Prozent der Führungskräfte in diesem Bereich erwarten als Folge der Pandemie eine steigende Nachfrage in Europa. Darauf folgt die Kommunikations-, Medien- und Unterhaltungsbranche mit 52 Prozent, die eine V-förmige Erholung in den europäischen Märkten erwartet. An dritter Stelle liegt die Versicherungsbranche mit 47 Prozent.
Gegenteilig dazu äußern sich die Automobilbranche sowie der Sektor Fluggesellschaften/Reisen/Transport, von denen nur sieben bzw. zwölf Prozent der Befragten mit einem raschen Aufschwung rechnen.
Europas Unternehmen können Führungsposition ausbauen
In der deutschen, skandinavischen und britischen Wirtschaft soll es der Befragung zufolge am schnellsten wieder bergauf gehen, gefolgt von Frankreich, Spanien und Italien – so die Einschätzung der befragten Führungskräfte. Zudem sind die Wirtschaftsführer hinsichtlich der Wettbewerbsfähigkeit Europas optimistisch: Vier von zehn Befragten (39 %) glauben, dass europäische Unternehmen gegenüber ihren amerikanischen Wettbewerbern konkurrenzfähiger sein werden als vor der Krise. Knapp die Hälfte der Befragten (43 %) nehmen an, dass europäische im Vergleich zu chinesischen Unternehmen besser aufgestellt sein werden.
„Das aktuelle wirtschaftliche Umfeld ist noch immer volatil und unsicher. Vertrauen ist hier entscheidend“, erklärt Jean-Marc Ollagnier, CEO von Accenture in Europa. „Die wirtschaftliche Erholung und die Wettbewerbsfähigkeit Europas stimmen optimistisch und bieten europäischen Unternehmen eine einzigartige Gelegenheit: Sie können ihre Führungsposition stärken und den Abstand zu ihren amerikanischen und asiatischen Konkurrenten verringern. Das hängt jedoch davon ab, inwieweit sich der Optimismus in Handeln umsetzen lässt. Das größte Risiko für europäische Unternehmensführer besteht darin, dass sie weiterhin zu sehr auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, in der Defensive bleiben und zu wenig in wegweisende Innovationen investieren – denn der globale Wettbewerb wird nicht warten.“
Das Gebot der Stunde: Anders denken
Laut der Umfrage von Accenture besteht die Gefahr, dass Führungskräfte in Europa im Vergleich zu denen in Nordamerika und im asiatisch-pazifischen Raum hinsichtlich des Aufschwungs zu vorsichtig agieren:
- Der Fokus liegt eher auf stufenweiser als auf wegweisender Innovation: Mehr als die Hälfte (53 %) der europäischen Befragten gab an, dass sie die Investitionen in Innovation zurückschrauben und in den nächsten sechs Monaten keine neuen Initiativen starten werden. Nordamerika und der asiatisch-pazifischen Raum ist mit 33 Prozent bzw. 49 Prozent weniger zurückhaltend.
- Unzureichende Investitionen in die Zukunft der Unternehmen: In Europa investiert nur etwa jedes siebte Unternehmen (16 %) bereits in Maßnahmen, um sich auf den Aufschwung vorzubereiten. Im asiatisch-pazifischen Raum ist es jedes vierte Unternehmen (25 %) und in Nordamerika jedes dritte (34 %).
- Kollaborationen für eine rasche Erholung sind weniger wahrscheinlich: Dass Führungskräfte mit anderen Unternehmen zusammenarbeiten, um die Auswirkungen der Krise abzuschwächen und sich schneller zu erholen, ist in Europa etwas unwahrscheinlicher als in Nordamerika und im asiatisch-pazifischen Raum. Unter den europäischen Befragten gaben dies 48 Prozent an, verglichen mit 53 Prozent in Nordamerika und 55 Prozent im asiatisch-pazifischen Raum.
„Europas Wirtschaftsführer müssen sich unbedingt schon heute für die Welt nach COVID-19 aufstellen“, mahnt Ollagnier. „Jetzt ist die Zeit, anders zu denken und zu handeln sowie ausgewogene Risiken einzugehen, um langfristige Widerstandsfähigkeit aufzubauen und die Wachstumsmodelle zu erneuern. Nur so schaffen es Unternehmen, sich an das ’never normal’ der neuen Realität anzupassen.“
Innovationstempo muss erhöht werden
Zu den kritischen Aufgaben, auf die sich europäische Unternehmen konzentrieren müssen, um den Wettbewerbsrückstand gegenüber ihren nordamerikanischen und asiatischen Konkurrenten aufzuholen, zählen:
- Umfang und Tempo der digitalen Transformation erhöhen: Am widerstandsfähigsten waren in der Pandemie die Unternehmen, die über die fortschrittlichsten digitalen Möglichkeiten verfügen. Diese ermöglichen es ihnen, ihre Belegschaft für flexibles Arbeiten auszurüsten, ihre Lieferketten anzupassen und sich auf ein neues Konsumverhalten einzustellen – schnell und in großem Maßstab. Europäische Führungskräfte sehen nun deutlich die Notwendigkeit, eines zügigeren digitalen Wandels: Fast zwei Drittel (63 Prozent) versicherten, dass ihre Unternehmen ihre digitale Transformation beschleunigen werden, einschließlich der Nutzung von Cloud-Technologien.
- Erlebnisse für zunehmend verantwortungsbewusste Verbraucher schaffen: Die Kaufgewohnheiten während des COVID-19 Lockdowns werden auch nach der Pandemie bestehen bleiben: Die Verbraucher kaufen verantwortungsbewusster ein und verlagern sich massiv auf Online-Kanäle. Daher werden Unternehmen ein End-to-End-Kundenerlebnis schaffen müssen – eines, das die Kunden schon frühzeitig einbindet und sich durch die Verkaufs- und Serviceprozesse fortsetzt. Fast zwei Drittel (62 Prozent) der europäischen Führungskräfte einer verbrauchernahen Branche können sich vorstellen, auf Kaufgewohnheiten zu setzen, die zunehmend von sozialen und ökologischen Kriterien bestimmt werden.
- Technologie für eine Neuerfindung des Industriesektors: COVID-19 hat Debatten darüber ausgelöst, ob Unternehmen ihre Aktivitäten wieder in ihre Heimatmärkte verlagern sollten. Die „Relokalisierung“ muss jedoch nicht zwangsläufig das Allheilmittel für die europäische „industrielle Renaissance“ sein. Damit Unternehmen langfristig widerstandsfähiger werden, ihre Geschäftsmodelle neu erfinden und neue Einnahmequellen erschließen, müssen sie fortschrittliche digitale Technologien nutzen, wie zum Beispiel Predictive Modelling, Digital Twins und Edge Computing – um nur einige zu nennen. Mit 42 Prozent der europäischen Befragten im verarbeitenden Gewerbe, die planen, Investitionen in die digitale Transformation zu beschleunigen, besteht für europäische Unternehmen die Möglichkeit, die Führung im Industriesektor zu übernehmen – denn in Nordamerika sind es nur 32 Prozent, in Asien sogar nur 30 Prozent.
„Europa steht an einem Scheideweg. Seine Führungskräfte können entweder weiterhin den bekannten strategischen und operativen Pfad beschreiten oder sie können einen neuen Weg wählen – einen, der auf Innovation und vielversprechender Technologie basiert und diese mit Europas traditionellen Stärken kombiniert“, fasst Ollagnier zusammen. „So schwierig die COVID-19-Pandemie auch war und nach wie vor ist, sind Ausmaß und Umfang der neuen Möglichkeiten ganz klar – insbesondere im Industriesektor und bei Fragen bezüglich der Energiewende. Es ist an der Zeit, dass Europa die Chancen ergreift, die Wettbewerbslücke zu schließen.“