Der Einzelhändler der Zukunft definiert sich nicht mehr allein über Waren, sondern auch über Dienstleistungen und Informationen. Künstliche Intelligenz wird zahlreiche Routineaktivitäten wie Angebotsgestaltung, Preissetzung und Prognosen übernehmen. Die Bedeutung der Filialen wird abnehmen, selbstfahrende Fahrzeuge werden die „letzte Meile“ revolutionieren. Der Warenfluss wird auch in Zukunft Kern des Handels sein. Doch neben ihn treten als ebenso wichtige Determinanten die Information und das Wissen.
Diese Zukunftsszenarien beschreibt der Branchenreport „Retail Journal“ der Managementberatung Oliver Wyman. Sirko Siemssen, Handelsexperte und Co-Leiter des europäischen Branchenteams Einzelhandel und Konsumgüterindustrie bei Oliver Wyman: „Der technologische und gesellschaftliche Wandel löst einen tiefgreifenden Wandel im Einzelhandel aus. Er erfasst die Lieferketten, den gesamten Betrieb und wirkt sich damit direkt auf die Zukunftsaussichten der einzelnen Anbieter aus. Unternehmen sollten sich an die Spitze der Veränderungen setzen, ansonsten drohen sie perspektivisch gegenüber neuen Wettbewerbern mit disruptiven Geschäftsmodellen ins Hintertreffen zu geraten. Allerdings: Noch weiß niemand, wohin genau die Reise geht. Entsprechend sind strategisches Agieren und Agilität gefragt.“
Tektonische Verschiebungen auf drei Ebenen
Die neuen, auf der umfassenden Digitalisierung basierenden Geschäftsmodelle werden weitere spürbare Veränderungen auf drei zentralen Ebenen im Einzelhandel nach sich ziehen:
- Die Zentralen: Algorithmen und künstliche Intelligenz werden zahlreiche Routineaufgaben im Einkauf beziehungsweise Category Management, im Marketing und in der Steuerung der Lieferkette übernehmen. Sie kommen schneller zu besseren Antworten als menschliche Entscheider. Nur in definierten Ausnahmefällen ist hier noch menschliches Eingreifen erforderlich. Viele Aufgaben in der Administration werden sogar vollständig digitalisiert. Der Mitarbeitereinsatz kann in der Konsequenz mehr und mehr auf strategische Fragen und das Treiben von Innovationen ausgerichtet werden. Entsprechend steigen die Anforderungen an die verbliebenen Mitarbeiter. Der Kampf um die besten Talente wird nochmals deutlich an Intensität zunehmen.
- Die Filialen: Auch die Bedeutung der Filialen wird weiter abnehmen. Der Handel verändert sich fundamental von einem filialbasierten zu einem kundenbeziehungsbasierten Geschäft. Hinzu kommen immer mehr Optionen für die letzte Meile vor allem in urbanen Regionen. Autonom fahrende Lieferwagen, die einem Kunden eine WhatsApp-Nachricht senden, dass sie vor der Tür stehen und die Einkäufe mittels Passwort aus einer Boxen entnommen werden können, werden in nicht allzu ferner Zukunft Realität sein.
- Die Branchenstruktur: Um weiter mit Discountern bei den Preisen, mit Technologiegiganten bei Apps und Technologien rund um die Kundenschnittstelle und mit Geschäftsmodellen, die ganz neue Skaleneffekte auf der letzten Meile realisieren, konkurrieren zu können, wird sich der Handel in Europa durch Fusionen und Übernahmen weiter von einem nationalen hin zu einem internationalen Geschäft weiterentwickeln. Besonders im europäischen LEH wird das deutlich spürbar sein: In zehn bis fünfzehn Jahren wird es nur noch halb so viele der Anbieter mit im Kern filialbasierten Modellen geben.
Wissen nutzen, Kundenansprache und -dienste verbessern
Ein erster Schritt in Richtung Zukunft ist die Wandlung des Einzelhandels weg vom reinen Produktverkauf hin zu einem stärkeren Kundenfokus. Zukünftig kann nur erfolgreich sein, wer komplett differenzierte Sortimente anbieten kann, die auch wirklich nachgefragt werden, wer spürbare Kostenvorteile in der Supply Chain und damit deutlich niedrigere Verkaufspreise realisieren kann oder wer die Kundenschnittstelle kontrolliert, so der Branchenreport.
„Ehrlicherweise können nur die wenigsten Händler einen tatsächlichen Vorsprung gegenüber dem Wettbewerb bei einer der drei Dimensionen für sich beanspruchen“, sagt Siemssen. „Oft trifft ein nur in Nuancen differenziertes Leistungsangebot auf durchschnittlich effiziente Beschaffungs- und Supply Chain-Kosten und eine recht gewöhnliche Kundenschnittstelle. Umso bedrohlicher ist das Szenario, dass sich branchenfremde Anbieter mehr und mehr der Kundenschnittstelle bemächtigen und den etablierten Handel zu austauschbaren Warenversorgern degradieren.“
Deutsche Händler hinken bei der Datennutzung hinterher
Der Kampf um die Schnittstelle zum Kunden ist voll entbrannt. Für Händler gilt es, Kunden zu verstehen, Bedürfnisse zu befriedigen und die Nachfrage zu antizipieren. Dazu müssen die Einzelhändler ihre Kunden noch viel besser kennenlernen als es bereits der Fall ist. „Die Daten der Händler sind dabei ihr größter Schatz“, sagt Siemssen. „Einzelhändler wissen, was Konsumenten tatsächlich tun – und zudem wann und wo. Besonders Deutsche Händler hinken bei der Nutzung dieser Daten allerdings hinterher und drohen, die Kundenschnittstelle an Google, Amazon & Co zu verlieren. In manchen Non-Food-Sektoren ist das bereits weitestgehend passiert.“
Als alternative Überlebensstrategie können sich etablierte Händler eine Nische als flexible, lokale Anbieter suchen und Kunden mit eben jenen Eigenschaften überzeugen, die den dann international agierenden Unternehmen fehlt. Siemssen: „Wer sich jetzt nicht genau überlegt, wo sein Platz in dieser neuen Einzelhandels-Welt ist, könnte zu keiner dieser beiden Gruppen gehören – und stattdessen von einem Wettbewerber geschluckt werden.“