Die Digitalisierung und neue Geschäftsmodelle sorgen für eine stetig wachsende Kluft zwischen Bereitstellung und Vertrieb von Finanzprodukten. Über digitale Plattformen erreichen Konkurrenten klassischer Banken bereits heute einen Großteil von deren Kundschaft. In Zukunft könnten sie den Konsumenten in noch größerem Stil Leistungen verkaufen. Dies verlangt von Retail-Banken strategische Grundsatzentscheidungen: Sie stehen vor der Wahl, ob sie sich weiter an der Kundenschnittstelle positionieren und dafür selbst aktiv Plattformen gestalten und nutzen oder in Zukunft primär als Produktanbieter auftreten möchten.
Wie der „Europäische Retail Banking Survey“ von Roland Berger zeigt, zielen zwei Drittel der Institute weiterhin auf eine Positionierung direkt an der Kundenschnittstelle. Allerdings sind sie derzeit noch zu sehr damit beschäftigt, ihr herkömmliches Geschäftsmodell zu digitalisieren: Als Innovationstreiber sehen sich nur zwei Prozent der klassischen Retail-Banken.
„Den Retail-Banken ist es bisher nicht richtig gelungen, den Abstand auf die digitalen Vorreiterunternehmen zu verkürzen“, sagt Wolfgang Hach, Partner von Roland Berger. „Sie digitalisieren zwar ihre bestehenden Geschäftsmodelle und Prozesse. Aber die Umsetzung tiefgreifender digitaler Innovationen steht noch am Anfang. Die Banken überlassen es somit derzeit oftmals anderen Spielern, insbesondere den großen Technologieanbietern und Fintechs, die Zukunft des Retail Banking zu gestalten.“
Digitale Plattformökonomie revolutioniert die Finanzbranche
Die Banken haben in den vergangenen Jahren ihre Prozesse beschleunigt: Konten lassen sich schneller eröffnen, Kredite kurzfristiger abschließen und auch komplexe Produkte wie Baufinanzierungen werden in deutlich kürzerer Zeit zur Verfügung gestellt. Dennoch: „Derzeit denken viele Institute noch zu sehr von klassischen Produkten und Prozessen her“, sagt Sebastian Steger, Partner von Roland Berger. „Für echte Innovation bleibt da zu häufig kein Raum.“
Ihr Defizit ist den Retail-Banken durchaus bewusst: Auf die Frage der Roland Berger-Experten nach den Innovationstreibern der Branche nennen nur zwei Prozent der Umfrageteilnehmer die klassischen Retail-Banken, 47 Prozent dagegen große Technologieanbieter. Auch als Treiber für den Aufbau von Banking-Plattformen nennen die Befragten sich selbst erst an vierter Stelle (44 %) nach den Tech-Giganten (80 %), Direktbanken (68 %) und Fintechs (65 %). Dies passe nicht zum Anspruch einer Positionierung an der Kundenschnittstelle.
Dabei drängt die Zeit, wie der Blick auf andere Branchen zeigt, die der Wandel in Richtung Plattformökonomie innerhalb kürzester Zeit umgekrempelt hat. So verkaufen zum Beispiel Fluggesellschaften heute viele Flüge nicht mehr direkt, stattdessen läuft der Vertrieb sehr häufig über Plattformen. Eine ähnlich schnelle Entwicklung ist in der Finanzindustrie bereits in vollem Gange. Insbesondere bei Retail-Produkten verfügen Plattformen bereits über signifikante Marktanteile, die in Summe über 30 Prozent des Neugeschäfts ausmachen – mit schnell wachsender Tendenz.
Nicht alle Banken können sich an der Kundenschnittstelle aufstellen
Um den nötigen digitalen Aufholprozess, zielgerichtet zu starten, brauchen die Banken eine grundsätzliche Neuorientierung, auch der Kultur: „Viele der Akteure im Retail Banking sind in einer Welt groß geworden, in der sie sich nicht entscheiden mussten, ob Kundenzugang oder Produktangebot im Vordergrund stehen“, sagt Steger. „Doch die althergebrachte, möglichst universelle Aufstellung mit maximaler Wertschöpfungsbreite und -tiefe funktioniert in der Welt der Plattformen nicht mehr.“
Retail-Banken sollten daher zunächst eine klare und realistische strategische Positionierung erarbeiten und entscheiden, wo ihr zukünftiger Fokus liegt: Kundenbeziehung, Produkt oder Technologie. Auch wenn 66 Prozent der Befragten sich an der Kundenschnittstelle positionieren wollen, warnt Steger: „Nicht jede Bank kann mit eigenen digitalen Angeboten oder gar einer eigenen Plattform erfolgreich sein, schon alleine deshalb, weil Plattformen nur dann attraktiv sind, wenn viele Nutzer und Angebote zusammenkommen. Deshalb heißt es, genau zu ermitteln, in welchem Bereich die eigenen Stärken liegen und das Geschäftsmodell darauf auszurichten.“
Wenn die grundsätzliche Entscheidung gefallen ist, sollten Banken konsequent die Umsetzung angehen und auch dafür zielgerichtete Ansätze wählen. „Dabei geht es nicht darum, das in jeder Hinsicht neue und allgemeingültige digitale Umsetzungsmodell festzuschreiben“, sagt Hach. „Es gibt keinen „One-Size-Fits-All“-Ansatz für die digitale Transformation.“ Entscheidend sei, eine klare Vision zu haben und diese mit möglichst flexiblen Umsetzungsmodellen zu kombinieren, begleitet durch die Einführung und kulturelle Verankerung von modernen Denk- und Arbeitsweisen in der Organisation.
Gleichzeitig sollten die Banken innovative, digitale Lösungen zumindest teilweise von bestehenden technischen Infrastrukturen und Systemen entkoppeln. „Als Grundregel kann gelten: Je innovativer, disruptiver und ungewisser das erwartete Ergebnis, desto agiler und flexibler sollte der gewählte Ansatz sein“, sagt Hach.