Vernetzte Produktionsanlagen, Echtzeit-Kommunikation zwischen Maschinen, individuelle Unterstützung vom Kollegen Roboter: Die Digitalisierung der Industrieunternehmen in Deutschland macht Fortschritte. Fast 6 von 10 Industrieunternehmen mit mehr als 100 Mitarbeitern in Deutschland (59 %) nutzen spezielle Anwendungen aus dem Bereich Industrie 4.0. Vor zwei Jahren waren es erst 49 Prozent. Zugleich hat sich der Anteil der Unternehmen, für die Industrie 4.0 gar kein Thema ist, seit 2018 von 9 Prozent auf 1 Prozent verringert.
Das ist das Ergebnis einer repräsentativen Studie zur Digitalisierung der deutschen Industrie im Auftrag des Digitalverbands Bitkom, für die 552 Industrieunternehmen ab 100 Mitarbeitern von Mitte Februar bis Anfang April 2020 befragt wurden. Demnach planen aktuell weitere 22 Prozent konkret den Einsatz spezieller Anwendungen für Industrie 4.0 – 17 Prozent können sich vorstellen, dies in Zukunft zu tun.
„Die produzierende und verarbeitende Industrie ist der Kern der deutschen Wirtschaft – und sie verfügt über ein riesiges digitales Potenzial. Fast alle Unternehmen haben sich auf den Weg in Richtung Industrie 4.0 gemacht. Anders als Deutschlands Verwaltungen und Schulen war die Industrie auch ohne Corona digital gut in Schwung“, sagt Bitkom-Präsident Achim Berg. „Dabei darf diese positive Entwicklung durch Corona keinen Dämpfer erfahren. Je digitaler die Industrieunternehmen aufgestellt sind, desto schneller werden sie sich von den Folgen des Shutdowns erholen.“
Diese Erkenntnis ist auch im größten Teil der Unternehmen verankert: 94 Prozent sehen in der Industrie 4.0 die Voraussetzung für den Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie. Mehr als jeder Zweite (55 %) betont, Industrie 4.0 gebe dem eigenen Geschäft generell neuen Schub. Insgesamt sieht eine überwältigende Mehrheit von 93 Prozent der Industrieunternehmen Industrie 4.0 als Chance – und nur 5 Prozent als Risiko.
Digitalisierung schafft neue Geschäftsmodelle
Bei fast drei Viertel (73 %) der deutschen Industrieunternehmen werden im Zuge von Industrie 4.0 nicht nur einzelne Abläufe oder Prozesse verändert, sondern ganze Geschäftsmodelle – eine deutliche Zunahme seit 2018, wo es noch 59 Prozent waren. Etwas mehr als jedes zweite Unternehmen (51 %) entwickelt neue Produkte und Dienstleistungen oder plant dies (2018: 39 %). Jedes Vierte (26 %) verändert bestehende Produkte oder hat dies vor (2018: 18 %). 28 Prozent nehmen bisherige Produkte und Dienstleistungen sogar ganz vom Markt (2018: 20 %).
„Automobilproduzenten entwickeln sich zu Anbietern von Mobilitätslösungen und Hersteller von Medizintechnik zu smarten Gesundheits-Dienstleistern. Dieser Weg muss nun branchenübergreifend in der gesamten Industrie fortgeführt werden. Wenn die Produktion mit Abbau der Corona-Beschränkungen nun langsam wieder hochgefahren wird, gilt einmal mehr, das eigene Geschäft auf den Prüfstand zu stellen: Die Geschäftsmodelle der Zukunft sind ausschließlich digital“, so Berg.
Die Mehrheit der Industrieunternehmen, die neue Produkte und Dienstleistungen im Zuge von Industrie 4.0 entwickeln, setzt dabei auf Plattformen: 88 Prozent entwickeln digitale Plattformen neu oder weiter oder beteiligen sich daran. Auf ihnen können Produkte oder Services vertrieben oder auch Kunden mit Lieferanten vernetzt werden.
45 Prozent haben sogenannte Pay-Per-Use- oder Production-as-a-Service-Modelle eingeführt: Damit verkauft etwa ein Maschinenbauer keine Maschinen mehr, sondern vielmehr Produktionskapazitäten, je nach Bedarf des Kunden. 18 Prozent der befragten Unternehmen, in denen neue Produkte und Dienstleistungen im Zuge von Industrie 4.0 entwickelt oder geplant werden, setzen auf datenbasierte Geschäftsmodelle, verkaufen also Produkt- und Produktionsdaten oder bieten aufbauend darauf neue Dienste an, etwa um Qualität und Handhabung eines Produkts zu verbessern. Allerdings wirken die neuen Geschäftsmodelle aktuell nur zu einem kleinen Teil disruptiv: Bei 3 Prozent der betreffenden Unternehmen wurden bisherige Geschäftsmodelle komplett abgelöst. Bei einer Mehrheit von 77 Prozent existieren neue und alte Geschäftsmodelle vorerst noch nebeneinander.
5G ist von Bedeutung
Der Großteil der deutschen Industrieunternehmen setzt große Hoffnungen in den neuen Mobilfunkstandard 5G, mit dem sich große Datenmengen drahtlos und in Echtzeit übertragen lassen. 73 Prozent der Industrieunternehmen sehen die Verfügbarkeit von 5G für das eigene Geschäft als wichtig an – davon 36 Prozent als „sehr wichtig“ und 37 Prozent als „eher wichtig“.
„5G ist für die deutsche Industrie eine Schlüsseltechnologie. Sie ermöglicht Übertragungen in Echtzeit, eine höhere Netzwerk-Kapazität und eine quasi unbegrenzte Zahl an Menschen und Geräten, die innerhalb der 5G-Netze miteinander in Echtzeit kommunizieren können – eine Voraussetzung für autonomes Fahren oder die Kommunikation zwischen Maschinen ohne Kabel. 5G bildet das Nervensystem der Industrie 4.0“, betont Berg.
KI in jedem siebten Unternehmen
Eine ebenfalls große Bedeutung wird Künstlicher Intelligenz beigemessen. Jedes siebte Unternehmen (14 %) nutzt aktuell Künstliche Intelligenz im Kontext von Industrie 4.0, wobei größere Unternehmen ab 500 Mitarbeitern mit 23 Prozent deutlich häufiger auf KI setzen als kleinere Unternehmen mit weniger als 200 Mitarbeitern (9 %) oder 200 bis 499 Mitarbeitern (11 %).
Zu den gängigen KI-Anwendungen zählen etwa Predictive Maintenance, bei der mithilfe von Algorithmen und Sensoren der Betrieb von Maschinen überwacht wird, so dass die KI noch vor einem drohenden Ausfall auf die notwendige Wartung hinweist. Auch Roboter, die ihre Arbeitsabläufe auf aktuelle Erfordernisse hin selbständig anpassen können, sind ein solches Beispiel.
Zu den wichtigsten Vorteilen von KI in der Industrie zählen die Unternehmen neben der genannten Möglichkeit der vorausschauenden Wartung (43 %) eine Steigerung der Produktivität (41 %) sowie die Optimierung von Produktions- und Fertigungsprozessen (39 %). Mehr als jedes zweite Industrieunternehmen (58 %) sieht in KI disruptives Potenzial, hält es also für wahrscheinlich, dass Geschäftsmodelle dadurch nachhaltig und tiefgreifend verändert werden.
„KI ist eine epochale Technologie, die die Weltwirtschaft und gerade auch die Industrie revolutionieren wird. Damit das gelingt, brauchen wir nicht nur Maschinen- und Prozessdaten – sondern auch exzellent ausgebildete KI-Experten“, sagt Berg.
Industrie 4.0 schafft Arbeitsplätze für Qualifizierte
Die Fachkräftesicherung ist somit auch ein wichtiges Thema bei den Industrieunternehmen: 66 Prozent bekräftigen, dass durch Industrie 4.0 neue Arbeitsplätze für gut ausgebildete Fachkräfte entstehen. Fast alle (89 %) meinen, dass die Arbeit in der vernetzten Fabrik verstärkt interdisziplinäre Kompetenzen erfordert, etwa an der Schnittstelle von Maschinenbau und Informatik.
Bereits 2019 haben 31 Prozent der Industrieunternehmen, die Industrie 4.0 anwenden oder planen, neue Mitarbeiter für den Bereich Industrie 4.0 eingestellt – und immerhin jedes fünfte Unternehmen (20 %) will dies 2020 tun. Allerdings steht dem auch ein Beschäftigungsabbau gegenüber: 14 Prozent planen für 2020, Mitarbeiter infolge der Nutzung von Industrie 4.0 zu entlassen. Dabei sind 61 Prozent aller Industrieunternehmen der Meinung, dass durch Industrie 4.0 insbesondere Arbeitsplätze für gering Qualifizierte in den Fabriken wegfallen. Die Unternehmen reagieren allerdings auch aktiv auf diesen Umstand: Zwei Drittel (65 %) der Nutzer und Planer von Industrie 4.0 wollen in diesem Jahr Mitarbeiter für Industrie 4.0 weiterbilden.
„Die Einführung neuer Technologien, Werkzeuge und Methoden hat natürlich Auswirkungen auf die Beschäftigten in den Unternehmen. Digitale Bildung und Weiterbildung sind jetzt und in Zukunft essenziell“, betont Berg. „Der Wissens- und Ausbildungsbedarf wird bedingt durch schnellere Innovations- und kurze Produktzyklen immer größer. Digitale Bildung langfristig zu garantieren, muss gemeinsames Interesse von Politik und Wirtschaft sein.“
Allerdings geben 58 Prozent an, dass der Mangel an Spezialisten für Industrie 4.0 zu den großen Hemmnissen zählt – 2019 waren es noch 55 und 2018 nur 49 Prozent. Als weitere Hemmnisse für Industrie 4.0 werden hohe Investitionskosten (73 %) und Anforderungen an Datenschutz (67 %) und Datensicherheit (66 %) gesehen.
Deutschland international weit vorn
Die deutsche Industrie stellt sich in Sachen Industrie 4.0 sehr selbstbewusst auf: Mehr als jedes fünfte Unternehmen (22 %) sieht Deutschland derzeit weltweit auf einer Spitzenposition, knapp hinter den USA, die 27 Prozent auf Platz eins sehen. 19 Prozent sehen Japan vorn, jeder Siebte (14 %) China. Südkorea wird von 9 Prozent an der Spitze positioniert.
„Digitalisierung erzeugt mehr Wettbewerb, und dieser Wettbewerb führt zu mehr Innovationen – ein Glücksfall für Deutschland. Die hiesige Industrie mit ihren Global Playern und Hidden Champions spielt dabei auf den vorderen Plätzen mit und hat das Zeug, auch künftig weltweit Spitzenpositionen einzunehmen. Gerade während der Corona-Krise gilt: Ärmel hochkrempeln und die Digitalisierung der Industrie weltweit anführen“, sagt Berg.
„Der Umbau zur Industrie 4.0 braucht eine ambitionierte Flankierung durch die Politik. Wir müssen jetzt mutig sein, unsere Datenschätze verantwortungsvoll nutzen und Künstliche Intelligenz zu einer europäischen Schlüsseltechnologie machen.“ Dazu könne das von Deutschland und Frankreich gemeinsam vorangetriebene Projekt Gaia-X einen wesentlichen Beitrag leisten. Mit Gaia-X soll eine besonders sichere europäische Cloud-Infrastruktur geschaffen werden. „Wenn Gaia-X jetzt richtig aufgesetzt wird, kann sie das Vertrauen in die Sicherheit und den Schutz von Daten der Industrie 4.0 entscheidend stärken – und damit auch den sicheren Datenaustausch der Unternehmen untereinander“, betont Berg. Dies bedeute auch eine Stärkung der digitalen Souveränität und Datensouveränität Deutschlands und Europas.
Auch die Unternehmen sehen die Politik am Zug: 67 Prozent sind der Meinung, in der Politik bestehe kein ausreichendes Verständnis für die Bedeutung von Industrie 4.0. Mehr als drei Viertel (76 %) fordern eine neue Politik für Industrie 4.0. Berg: „Im Digitalzeitalter ist Industriepolitik gleichbedeutend mit Digitalpolitik. Wenn ‚Made in Germany‘ weiterhin weltweit gefragt sein soll, müssen wir in der Industrie 4.0 nicht nur mitspielen, wir müssen den Ton und das Tempo vorgeben. Besonders wichtige Fragen müssen schnellstmöglich geklärt werden: Das betrifft etwa den Umgang mit Daten, das Verhältnis von ökonomischem Vorsichtsprinzip und Risikobereitschaft bei Innovationen oder ein zukunftsfestes und modernes Wettbewerbsrecht. Um die bestehenden Stärken der deutschen Industrie weiter auszubauen, muss der traditionell ordnungspolitische Ansatz deutscher Wirtschaftspolitik digital-industriepolitisch ergänzt werden.“