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Dilemma der digitalen Transformation: Was ist machbar? Was vertretbar?

Von Hermann Gouverneur, CTO bei Atos Deutschland und Mitglied der Atos Scientific Community

Technologie setzt dem Machbaren kaum noch Grenzen. Das stellt Unternehmen vor ein grundlegendes Dilemma: Technologisch Machbares muss mit dem verantwortlich und ethisch Vertretbaren ausbalanciert werden. Dieses Gleichgewicht ist der Schlüssel für eine erfolgreiche Digitalisierungsstrategie.

Mit neuen Technologien wie künstlicher Intelligenz, Big Data, IoT und Quantum Computing stehen wir heute vor einer weiteren Phase der Digitalisierung, die sich auf alle Bereiche des Lebens auswirken wird. Digitaltechnologie ist bereits fester Bestandteil unseres Alltags. Wir können heute immer und überall Informationen abrufen, erledigen Einkäufe und Bankgeschäfte über das Internet und kommunizieren über Social-Media-Kanäle. Noch nie hatten wir so viele Informationen zur Verfügung. Die Möglichkeit immer und überall Daten zu sammeln, zu analysieren und zu nutzen, birgt allerdings auch die Gefahr einer potenziellen Manipulation von Individuen und Gruppen.

Erfolgt die Nutzung von Daten nicht verantwortlich, wird die Gesellschaft dem digitalen Fortschritt und somit den neuen Digitaltechnologien zunehmend skeptisch gegenüberstehen. Wir alle entscheiden darüber, welche neuen Trends und digitale Technologien sich durchsetzen.

Schon immer gab es Spannungen zwischen dem Bestehenden und dem Neuen. Doch während bisher meist die Vorteile des Fortschritts überwogen, ist Digitalisierung um jeden Preis jetzt nicht immer und in jeder Situation die richtige Antwort. Unternehmen stehen vor einem grundlegenden Dilemma, das sich in zwei Fragen zusammenfassen lässt: Könnten wir? Und sollten wir? Es geht also nicht mehr nur darum, was technologisch möglich und machbar ist, sondern zunehmend um die Verantwortung dafür, wie weit man gehen kann und insbesondere was ethisch vertretbar ist.

Beispiele für digitale Dilemmata

Ein Beispiel für ein digitales Dilemma ist der Spagat zwischen Datennutzung und dem Datenschutz, also dem Schutz der Privatsphäre. Daten und insbesondere die Erkenntnisse, die man aus ihnen gewinnen kann, sind heute ein wertvolles Gut. Online-Händler können treffsicherer auf die Wünsche ihrer Kunden eingehen. Für die Kunden ist das einerseits angenehm und wünschenswert, andererseits möchte niemand zum gläsernen Konsumenten degradiert oder in seinen Kaufentscheidungen manipuliert werden. Unternehmen, die Daten profitabel einsetzen wollen, müssen solche Bedenken ernst nehmen und die Grenzen des sinnvollen Erkenntnisgewinns aus Daten kennen.

Digitale Dilemmata entstehen auch bei grundlegenden Technologieentscheidungen wie der Wahl der Datenplattform oder der Frage, ob und in welcher Weise man Daten mit Anderen teilen möchte. Je mehr Daten zur Verfügung stehen und geteilt werden, desto genauer und besser werden Analysen, und der zusätzliche Erkenntnisgewinn ermöglicht neue Geschäftsmodelle. Deshalb sind kollaborative Plattformen, die Daten aus verschiedenen Quellen verschiedener Eigentümer verbinden, heute schon für alle Beteiligten attraktiv und wertschöpfend. Der verantwortliche Umgang mit Daten und der Datenschutz werden oft als limitierender Faktor empfunden.

Die vier Kräfte im Spannungsfeld zwischen digitaler und realer Welt

Weil die digitale und die reale Welt zunehmend miteinander verknüpft sind, gilt es neue Technologien immer auch im gesellschaftlichen Kontext zu betrachten. Die Kräfte zwischen realer und digitaler Welt wirken in drei Dimensionen. Erkenntnisse, Trägheit und Ungleichheit bilden die Basis zum Ausbalancieren der Kräfte.

1. Erkenntnisse

Daten zu sammeln, sie auszuwerten und daraus Erkenntnisse zu gewinnen, ist heute Grundlage und Herzstück jedes Geschäftserfolgs. So können Unternehmen beispielsweise gezielter werben, das Kundenerlebnis verbessern, mehr Transparenz über Produktions- und Logistikprozesse gewinnen und die Kosten in der Kundenbetreuung und bei der Wartung reduzieren. Mit der zunehmenden Vernetzung im Internet der Dinge scheinen die Möglichkeiten von Daten zu profitieren, fast grenzenlos.

2. Trägheit

Die Trägheit bestehender Geschäftsmodelle und -strukturen steht häufig der Veränderung und Transformation im Weg. Die reale Welt kann und will oft nicht Schritt halten mit der Geschwindigkeit der Veränderung in der digitalen Welt. Trägheit entsteht durch technische oder strukturelle Gegebenheiten und ist durch Regularien und gesellschaftliche Meinungen verstärkt und begrenzt. Die Herausforderung durch ständige technologische Anpassung wächst. Je schneller der technologische Wandel fortschreitet, desto schwieriger wird es, die existierende IT-Landschaft dem technologischen Wandel anzupassen. Bei allen Digitalisierungs-Entscheidungen müssen Unternehmen abwägen: Was ist ein angemessener Grad an Trägheit? Wo sollte ich versuchen sie zu überwinden, wo ist es besser, ihr nachzugeben?

3. Ungleichheit

Grundsätzlich führt die Digitalisierung zu mehr Gleichheit und Transparenz, denn das Internet ermöglicht allen gleichermaßen Zugang zu dem globalen Schatz an Wissen und Information. Statt vermeintlich gleicher Chancen gilt jedoch immer mehr: Kontrolle über Daten bedeutet Macht. Es entstehen Monopole, die neben der Geschäftswelt auch Regierungen und Gesellschaften beeinflussen können. Auch für die Zukunft der Arbeit schafft die Digitalisierung Ungleichheit. Auf der einen Seite verlieren Menschen aufgrund zunehmender Automatisierung ihren Arbeitsplatz. Auf der anderen Seite fehlen in vielen Firmen Spezialisten. Das führt zu einer Spaltung der Gesellschaft in Menschen, die Arbeit haben und solchen, die keine Beschäftigung mehr finden.

4.Ideale

Ideale stellen erstrebenswerte Werte dar und bilden Grenzen für das, was akzeptabel ist. Mit Hilfe von Idealen lassen sich die Spannungsfelder Erkenntnisse, Trägheit und Ungleichheit ausbalancieren. Die Spannungsfelder stehen in einer engen Wechselbeziehung: Wird die Grenze in einem Spannungsfeld überschritten, geraten auch die anderen Spannungsfelder aus dem Gleichgewicht. So kann zum Beispiel eine unverhältnismäßige Auswertung und Verknüpfung von Daten zum Gefühl der Ohnmacht führen und damit zu Trägheit bzw. Widerstand gegen bestimmte Geschäftsmodelle, die auf Daten basieren. Ideale definieren neben anstrebenswerten Zuständen auch die Grenzen dieser datenbasierten Geschäftsmodelle, sie bilden die kollektiven Werte und Ansichten einer Gesellschaft, unterscheiden sich von Kultur zu Kultur und verändern sich auch im Laufe der Zeit.

Digitale Dilemmata auflösen

Es gibt keine Universallösung für digitale Dilemmata. Vielmehr gilt es für Unternehmen jede einzelne Situation in den Spannungsfeldern Erkenntnisse, Trägheit und Ungleichheit differenziert zu betrachten, um sie mit Hilfe definierter Ideale auszubalancieren. So sind die zwei zentralen Fragen, die jedem digitalen Dilemma zu Grunde liegen beantwortbar:

  • Könnten wir? – Was ist unter wirtschaftlichen und technologischen Aspekten machbar?
  • Und sollten wir? – Was ist ethisch verantwortbar? Wie weit kann und soll man gehen?

Am Ende geht es darum, den Menschen wieder in den Mittelpunkt der Betrachtung zu rücken und digitale Technologien und Digitalisierung nicht als Selbstzweck zu betrachten.

Unternehmen können digitale Dilemmata nicht aussitzen. Nichtstun ist keine Option, und wer die Digitalisierung und die damit verbundenen Spannungsfelder ignoriert, muss mit unkontrollierbaren und unerwünschten Folgen für sein Geschäft rechnen. Geht ein Unternehmen zum Beispiel nicht verantwortlich und transparent genug mit der Nutzung von Daten um, wird es als invasiv empfunden. Aggressive digitale Geschäftsmodelle werden als Ausbeutung empfunden und vom Kunden abgelehnt. Und digitale Lösungen, die hohe Erwartungen schüren, aber nicht erfüllen, werden als Hype abgeschrieben.

Es ist wichtig zu erkennen, dass die genannten Spannungsfelder und ihre Wirkung sich nicht nur auf nach außen gerichtete, dem Kunden zugewandte Geschäftsstrategien beziehen, sondern auch auf interne Prozesse. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund relevant, dass mehr als 40 Prozent der Unternehmensleiter die Mitarbeiterqualifikation und Unternehmenskultur als größte Herausforderung oder ein Dilemma bei ihrer Digitalisierung sehen.

Der richtige Umgang mit digitalen Dilemmata

Unternehmen sollten digitale Dilemmata nicht als etwas Negatives betrachten, sondern als Chance überzeugende Werte zu entwickeln, die sie vom Wettbewerb abheben. Die folgenden Empfehlungen können dabei helfen.
Eine adaptive Geschäftsstrategie entwickeln: Damit können Unternehmen auf Ungewissheit und Unsicherheiten reagieren und diese beeinflussen.
Einen Digital-Business-Continuum-Ansatz verfolgen: Die digitale Transformation ist kein einmaliges Projekt, sondern eine kontinuierliche permanente Funktion zur Veränderung und Einführung von Innovationen.
Lebenslanges Lernen und neue Arbeitsweisen unterstützen: Die digitale Transformation erfordert von Mitarbeitern kontinuierliches Dazulernen und das Aneignen neuer Fähigkeiten sowie den Umgang mit neuen Tools, Prozessen und organisatorischen Strukturen.
Robotik, Automatisierung und KI mit Rücksicht auf den Menschen nutzen: Unternehmen müssen die Möglichkeiten der neuen Technologien ausschöpfen. Dabei gilt es jedoch, die Kultur, Erfahrung und Expertise der Belegschaft zu respektieren.
Ökosysteme auf kollaborativen Business-Plattformen etablieren: Neben Werten aus der eigenen Wertschöpfungskette entstehen zusätzliche Mehrwerte bei der digitalen Transformation vor allem in Ökosystemen auf kollaborativen Business-Plattformen. Diese Plattformen müssen einen vertrauenswürdigen Austausch von Erkenntnissen sowie eine einfache Integration von Prozessketten ermöglichen.
Auf die Quanten-Revolution vorbereiten: Schon heute ist es technisch möglich, Quanten-Algorithmen durch Simulation zu generieren. Diese Algorithmen zu entwickeln und zu beherrschen, ist ein Schlüssel für die Bewältigung derzeit unlösbarer Probleme.
Ein Konzept für Corporate Digital Responsibility entwickeln: Ähnlich wie für Umweltverantwortung und soziale Verantwortung müssen Unternehmen auch ein Konzept für digitale Verantwortung entwickeln. Dort legen sie die Ideale, Werte und Grenzen fest, nach denen sie neue digitale Technologien adaptieren und einsetzen möchten.

Fazit: Bei der digitalen Transformation geht es nicht nur darum, die richtigen Antworten zu finden, sondern auch die richtigen Fragen zu stellen. Neben dem „Könnten wir?“ muss also immer die Frage nach dem „Sollten wir?“ stehen. Dafür gilt es, ein Konzept der digitalen Verantwortung zu etablieren, in dem Werte definiert und Grenzen festgelegt werden. Gelingt es Unternehmen, weiterhin den Menschen ins Zentrum ihrer Digitalstrategie zu rücken, werden sie auch noch im Jahr 2022 und danach erfolgreich sein.

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